Yoga und Nachhaltigkeit - Vom Schlachtfeld zur Zufriedenheit
Während ich dem Plätschern des Wasser am Fusse eines Flusses in Nordindien lauschte, sagte mein Lehrer einen Satz, der mir bis heute nicht mehr aus dem Kopf ging: „Wenn der Mensch nur dieses eine Niyama in seinem Herzen kultivieren würde, könnte sehr viel unnötiges Leid und Schmerz auf der Welt vermieden werden.“ Er Sprach von Santosha. Eines der Niyamas aus den Yoga Sutras von Patanjali. Ich denke, Santosha ist das, was wir in der heutigen Zeit wahrscheinlich am meisten benötigen.
Santosha bedeutet übersetzt Harmonie, Lieblichkeit, Schönheit, Glanz sowie Gelassenheit, Gleichgewicht oder innere Ruhe und Zufriedenheit. Um jedoch die tiefere Bedeutung zu definieren, benötigt es ein paar Worte mehr. Das Wort Santosha bedeutet mehr als nur Gleichgewicht oder Harmonie. Ich finde das Wort Gelassenheit dennoch das treffendste. Wenn du etwa unabhängig von der äußeren Situation, ob es kalt oder warm ist, ob Regentropfen auf deine Schulter prasseln oder die Sonne deine Haut bräunt, ob du Stress empfindest oder Ruhe genießt, Gelassenheit wahren kannst, bist du im Zustand von Santosha - im Gleichgewicht, frei von den äußeren Bedingungen. Egal, ob du nun in einem Plattenbau auf 23 Quadratmetern oder in einer großen Villa auf 130 Quadratmetern lebst. Du bist zufrieden mit dem, was die Welt dir gibt, weil du weißt, dass Glück und Zufriedenheit nicht nachhaltig in der Welt der 10.000 Dinge zu finden sind. Das ist Santosha. Es bedeutet aber auch, die Harmonie zu sehen und zu erkennen, die im Makrokosmos und Mikrokosmos, im Sonnensystem und dem ganzen Universum herrscht, unabhängig von den äußeren Erscheinungen. Die Schönheit der Schöpfung zu erkennen, sie in sich selbst zu spüren und wahrzunehmen. Das ist Santosha. Ist es schwierig, diesen Zustand zu wahren? Genau genommen nein. Ist es schwierig, diesen Zustand in unserer Welt und unserer Zeit zu wahren? Es gibt wahrscheinlich keine größere Herausforderung.
Ich wurde schon einige Male gefragt, ob es etwas gibt, was mir besonders im Gedächtnis geblieben ist, als ich zeitweise in Indien gelebt habe. Ja etwas ist an mir hängengeblieben. Von den Indern durfte ich lernen, keinen Widerstand zu leisten. Dies war eine der wichtigsten Erkenntnisse, die ich bis dahin hatte. Als ich mich damals mit fast der letzter Kraft nach Indien schleppte und meine Reise in einem ayurvedischen Zentrum begann, war ich so sehr damit beschäftigt, täglich die Waffen bereitzuhalten und gegen all den inneren Schmerz anzukämpfen, der mich täglich fast zerriss. Ich habe bis dahin auf den weltweit größten Schlachtfeldern gekämpft – meinen inneren Schlachtfeldern. Duell um Duell, Schlacht um Schlacht, Krieg um Krieg. Ich versuchte, meine Gefühle und meinen Schmerz zu vernichten, aber ich scheiterte kläglich Tag für Tag. Wie Plato einst sagte: „Sei gnädig mit den Menschen, sie alle haben einen schweren Kampf.“ Und so war es. Den hatte ich. Anstrengend, mühevoll und Schmerz-zerreißend. Nachdem ich in meinem eigenen Blut getränkt war und endlich nach langer, sehr langer Suche, Schmerz und Angst im Regenwald Südindiens landete und von Paul, einem sehr zuvorkommenden Inder, aufgenommen wurde, begann ich langsam, die Schwerter niederzulegen. Ich vertraute ihm so sehr, dass die Angst langsam von mir wich. Nach Monaten und vielen Begegnungen mit Medizinmännern, Schamanen und Yogis verstand ich plötzlich die eine Lehre, nach denen einige dieser weisen Menschen lebten: «Einfach zu sein und keinen Widerstand zu leisten.» Ich beobachtete, wie sorglos und einfach die Inder im Tropenwald ihre Zeit nutzten. Wie sie sorglos den Moment genossen. Immer und immer wieder. Die Probleme dann lösten, wenn sie wirklich da waren. Wahrlich ohne Sorge. Diese Zeit lehrte mich, keinen Widerstand zu leisten, gegen das, was ist. Sondern vielmehr zu akzeptieren, was ist und sein könnte. Und erst aus diesem Verständnis heraus meine Handlungsgedanken abzuwägen. Und plötzlich hörten die Kriege auf. Eine Art innerer Ruhe breitete sich aus. Ein Form von Santosha – von Gleichgewicht. Zum ersten Mal.
Nach meiner Interpretation funktioniert die Lehre wie folgt: Wenn der gegenwärtige Moment dir Freude bringt, dann lass dich von der Freude erfüllen. Wenn der gegenwäritge Moment dir Trauer bringt, dann tauche tief in diese Trauer ein und lasse sie durch dich hindurchfließen. Unterdrücke sie nicht und führe keinen Kampf gegen das Leben und die Emotionen, die es mit sich bringt. Diesen Kampf kann man nicht gewinnen. Man kann nur Frieden schließen und so ein Gleichgewicht schaffen. Erlebe mit voller Offenheit, was gerade in dir passiert. Wenn wir nämlich allen Widerstand loslassen, haben wir die Möglichkeit, zu erfahren, was Harmonie wirklich bedeutet und was Anmut wirklich bedeutet. Was kann denn noch geschehen, wenn kein Widerstand mehr da ist? Nur ohne Widerstand kannst du das Mysterium der Schöpfung erfahren und die Mühelosigkeit in allem, was existiert, wirklich so erfahren, wie es eben ist. Santosha – das niederlegen der Waffen.
In der Praxis lehrt Santosha, dich selbst von all den Geschichten zu befreien, die du dir über die Jahre als wahr verkauft hast, obwohl sie fast alle gelogen waren. Santosha lehrt uns loszulassen, von dem was dir nicht dient. Lasse also los von dem ewigen Gedankenkarussell "Ich habe das und ich habe das nicht." oder "Ich bin das, wäre aber lieber etwas anderes." "Ich möchte dies, ich möchte das." Das ist ein ständiger Konflikt. Ein ständiger Widerstand und ständiges Hin und Her. Harmonie bedeutet, zufrieden zu sein mit dem, was ist, und das Bestmögliche zu tun, mit dem was der Moment gerade offenbart. Fällt dieses Gedankenkarussell erstmals in sich zusammen, kann sich endlich Dankbarkeit und Freude für das, was ist und was man hat, ausbreiten. Und was dann geschieht, ist das Natürlichste überhaupt. Es füllt uns mit Energie, mit Kraft und mit Lebensfreude. Das ist Santosha.
Wer in Santosha ist, kennt keine Lebenskrisen mehr. Klar ist das Leben manchmal schwierig und bringt Hindernisse mit sich. Und ja, wir werden bestimmt auf unserem Weg verletzt werden, Schmerz erfahren und vielleicht auch ein paar Mal hinfallen. Aber all das soll uns tief im Inneren nicht davon abhalten, in einem inneren Zustand von Harmonie zu sein oder es zumindest zu versuchen. Das "Selbst", in diesem Fall du, dein reines Bewusstsein, war schon immer und ist auch heute noch in Harmonie, in Santosha. Du musst nur den Zugang offenlegen und die selbst auferlegten Steine aus dem Weg räumen.
Einem Zustand von Disharmonie liegt immer ein Konflikt zwischen der inneren und äusseren Welt dem zugrunde. Anders kann es nicht erklärt werden. Sind die zwei Instanzen vom Fühlen und Denken irritiert und arbeiten gegeneinander, entstehen innere Konflikte. Hören wir nicht auf unsere innere Stimme, entscheidet die Welt der 10000 Dinge, was mit uns geschieht. Wir lassen uns dann von der Welt der Objekte kontrollieren und sind nicht Herr unserer Sinne. Sind wir nicht Herr und Meister über unsere Sinne, dann lebt in unserem Verstand ein Affe, der ständig von Ast zu Ast hüpft. Deshalb nennen die Buddhisten einen ungezähmten und unkontrollierten Geist auch einen Affengeist.
Wie setze ich Santosha im Alltag um? Der effektivste und nachhaltigste Weg ist die ständige Selbstreflexion. Das wiederholte Hinterfragen und Nachsinnen über die Tätigkeiten, die man gerade ausführt, die Gedanken die man gerade hat oder die Worte, die man gegenüber anderen äußert, gibt einem die Möglichkeit Impulse, Gedanken und Emotionen in ein Gleichgewicht zu bringen. Meditation, Journalen oder Brain-Dumping sind beliebte und einfache Techniken, um die Selbstreflexion zu stärken. Aber die wichtigste Zutat für Gleichgewicht ist der Wille, sich auch ständig selbst zu hinterfragen, zu reflektieren und daran wachsen zu wollen.
Es ist Zeit die Waffen niederzulegen. Es ist Zeit für Santosha.
Falls du noch etwas mehr über die Niyamas lesen willst, findest du vieles dazu in meinen vergangenen Blogbeiträgen.
Enjoy
Shanti, Shanit, Shanti
Hari Om Tat Sat
Frieden, Frieden, Frieden
So soll es sein
In Liebe und Dankbarkeit
Yves